… „Ja, die Szene ist wirklich hart“, sagte Jon etwas unbestimmt. Er dachte an Stephan und an Anna und eines ihrer Spiele, dem er beigewohnt hatte und das ganz und gar nicht nach seinem Geschmack gewesen war.
„Stehen Sie auf SM?“, fragte er plötzlich unverblümt. Er konnte sehen, wie Theresa schluckte. Ihre Wangen verfärbten sich.
„Ich hatte nie eine entsprechende Beziehung“, gestand sie.
„Merkwürdig. Obwohl Ihnen ganz offensichtlich die Erfahrung fehlt, schreiben Sie darüber …“
Sie nickte.
„Ich weiß. Doch ich muss gestehen, dass mich der Hype um SHADES OF GREY dazu veranlasst hat. Ich habe intensiv darüber gelesen und recherchiert. Ich wollte herausfinden, was die Menschen an solchen Geschichten fasziniert.“
„Und – was ist es?“
Sie saßen einander gegenüber und musterten sich gegenseitig. Ein Moment, in dem Jon zum ersten Mal das Gefühl hatte, es sei an der Zeit, die Rollenverteilung klar zu stellen. Und er konnte sehen, dass die Veränderung seiner Körperhaltung sofort Wirkung zeigte. Theresa errötete noch mehr, senkte den Blick und neigte den Kopf unmerklich zur Seite.
„Um darauf mit einem einzigen Satz zu antworten, ist die Frage zu vielschichtig“, gab sie nach einer kleinen Pause zu Bedenken.
Er schmunzelte.
„Dann greifen Sie sich einen Aspekt heraus.“
„ … Ich denke, für Frauen ist es der Kontrollverlust, der sie reizt, … und das Abgeben der Verantwortung“, fügte sie hinzu.
„Das Abgeben von Verantwortung ist erotisierend?“
Theresa wagte es nun doch, ihn anzuschauen. Ihre Augen strahlten in einem so intensiven Blau, wie es ihm bei ihr noch nie aufgefallen war.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie so leise, dass er Mühe hatte, sie zu verstehen. „Wenn ich für mich selbst nicht mehr verantwortlich bin, gestehe ich dem anderen zu, dass er die Entscheidungen trifft. Dafür muss ich ihm vertrauen. Und bereit sein, mich überraschen zu lassen. Den Überraschungseffekt beim Sex empfinde ich als ungemein prickelnd.“
Schweigend fixierte er sie.
„Und das, glauben Sie, ist der Grundaspekt von SHADES OF GREY?“
Sie schüttelte vehement den Kopf.
„Nur einer. Ein winziger.“ Sie schien nachzudenken und sprach sofort weiter. „Für wichtiger halte ich einen anderen, nämlich: Männer sind in diesem und ähnlichen Büchern noch männlich.“
„Oh“, brachte er verblüfft heraus, was ihr ein kleines Lächeln entlockte. „Männliche Männer! Das scheint also nicht alltäglich zu sein.“
„Keinesfalls! Männliche Attribute sind von der Gleichberechtigungsdebatte unserer Gesellschaft aufs Äußerste bedroht.“
Er verschränkte die Arme vor der Brust und grinste vielsagend.
„Mit anderen Worten: Echte Männer gehören zu einer aussterbenden Spezies.“
„Könnte man so sagen“, pflichtete sie ihm bei.
„Und Grey ist noch ein echter Mann? …“
Statt darauf zu antworten, zog sie die Brauen hoch.
„Sie haben das Buch gelesen?“
„Das überrascht Sie?“
„Allerdings! Es ist ein Frauenroman!“
„ … den man als Mann vielleicht gelesen haben sollte“, beendete er amüsiert ihren Satz.
„Sollte man?“
Er nickte.
„Wenn wir euch Frauen verstehen wollen, macht es Sinn, die Bücher zu lesen, die ihr vor uns versteckt …“
Auszug aus dem 1. Teil des Romans INSEL DER NACHTIGALLEN, als eBook auf Amazon erschienen