Auf einer einsamen Recherchetour in einem Schloss kam mir etwas Merkwürdiges unter: Das Foto von einer Kettenbuch-Bibliothek. Bücher in Gefangenschaft? An die Leine gelegt? Ernsthaft?
Im Mittelalter war das DIE Methode, Bücher, deren Wert mindestens dem eines Ochsen gleichkam, vor Diebstahl zu bewahren. Außerdem blieb so die vorgegebene Ordnung im Buchbestand erhalten. Und man verhinderte das Herunterfallen und die Beschädigung der oft schweren Wälzer. Die wurden, damit sie überhaupt nutzbar waren, an Lesepulte gekettet. Bibliotheken mit vielen angeketteten Büchern brauchten also sehr viel Platz, weil viele Lesepulte hineinpassen mussten. Die Buchketten hatten zwar Schlösser, damit man die Bücher bei Bedarf an andere Orte schaffen konnte. Mir stellt sich allerdings gerade die Frage, ob der große Nachteil einer Kettenbuch-Bibliothek darin bestand, dass man die kostbaren Bücher im Falle einer Feuersbrunst, von der es gerade im Mittelalter ja zahlreiche gab, kaum retten konnte? …
Als Bücher in Massen gedruckt wurden, verloren Kettenbuch-Bibliotheken ihren Sinn. Aber bis heute gibt es Hinweise auf diese Praxis. Mancherorts werden bestimmte Bücher noch immer an die Leine gelegt. Gästebücher beispielsweise. Und in den lange Zeit üblichen Telefonzellen verfuhr man so mit Telefonbüchern.
Wenn ich mir die Entwicklung im Buchmarkt anschaue, kann ich mir vorstellen, dass gedruckte Exemplare bald wieder so kostbar werden, dass wir sie behüten müssen. Nichts gegen die Digitalisierung – ich lese ja selbst gern eBooks. Doch wie lange werden wir uns noch an privaten Bibliotheken aus echten Büchern erfreuen? An großen Regalwänden, die unsere Wohnungen zu behaglichen Lesehöhlen machen? Zu wundervollen Rückzugsorten bei schlechtem Wetter oder dicker Luft? Wird uns auch in zwanzig Jahren noch der Duft eines neu gekauften oder eines richtig alten Buches bezaubern können?